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Problem Harninkontinenz
 
Harn- und Stuhlinkontinenz – ein medizinisches, hygienisches, soziales
und psychologisches Problem


Prof. Dr. H. Melchior
Vorsitzender der GIH (Gesellschaft für Inkontinenzhilfe)


Ein moderner Arzt muss sich heute fühlen wenn nicht wie Gott selbst, dann
zumindest wie sein Erzengel. In seiner Macht stehen Leben oder Tod, er operiert
ungeborene Säuglinge noch im Mutterleib, näht abgetrennte Arme und Beine
wieder an, flickt Knochen, Adern, Sehnen und Nerven wieder zusammen, lehrt
Taube wieder hören und Blinde wieder sehen. Er programmiert sogar verletzte
Hirne wieder neu (Walter Krämer, „Die Krankheit des Gesundheitswesens",
1989).



Aber über Harn- und Stuhlinkontinenz wird nicht gesprochen. Inkontinenz ist
„peinlich" und auch heute noch ein Tabu. Blasenfunktionsstörungen mit
Harninkontinenz und/oder Harnretention sind die häufigsten Alterskrankheiten in
den Industrieländern der westlichen Welt, sie sind häufiger als kardiovaskuläre
oder Gelenkerkrankungen. Inkontinenz ist eine Erkrankung, die durch die
zunehmende Lebenserwartung der Bevölkerung neue Dimensionen annimmt.
Gab es 1950 in der BRD nur etwa 20 000 Menschen über 90 Jahre, so sind es
heute über 200 000; waren es damals 500 000 Achtzig- bis Neunzigjährige, so
sind es heute über 2 Millionen. Waren 1950 vom Problem der Harninkontinenz in
erster Linie Frauen betroffen, welche mehrfach geboren hatten, so sind es heute
alte Menschen, welche die Kontrolle über Blasen- und Darmfunktion verloren
haben. Insgesamt werden in Deutschland etwa 4 bis 5 Millionen Menschen mit
einer behandlungs- und versorgungsbedürftigen Harn- und/oder Stuhlinkontinenz
medizinisch betreut. Die Dunkelziffer ist wahrscheinlich noch einmal so groß. Vielen von ihnen droht nicht zuletzt wegen dieser Erkrankung der
frühzeitige Weg „ab ins Heim".


Harninkontinenz im Alter ist ein zunehmendes Problem, resultierend aus den
Leistungen der modernen Medizin, die das Altwerden erst möglich gemacht
haben. Durch die Veränderungen der Alterspyramide stellen sie ein
zunehmendes sozioökonomisches Problem dar: Während in unserem Lande von
den 65 Mio. Einwohnern in der Altersstufe von 5 bis 64 Jahren nur 1,7 Mio. (3%)
inkontinent sind, sind es in der Altersstufe der 65- bis 79-jährigen bereits 1,3 Mio.
(11%) und von den über 80-jährigen 30% (Abb. 2). Schon heute wird für die
ambulante Versorgung Inkontinenter mehr als 2 Mrd. DM von den gesetzlichen
Krankenversicherungen aufgewandt, für die Versorgung Inkontinenter in den
Pflegeheimen mindestens noch einmal der gleiche Betrag (Füsgen, 1995). Im
Jahre 2030 werden in unserem Land mehr als 18 Mio. über 65-Jährige, 8 Mio.
über 75-Jährige und mehr als 2 Mio. Greise im Alter von 80 Jahren und mehr
leben. Daraus resultiert, dass die Zahl der inkontinenten Senioren sich in diesem
Zeitraum verdoppeln wird, wenn man nicht entscheidend gegensteuert.


Die medizinische Forschung ist gefordert! Harninkontinenz ist aber primär ein
Problem der Frauen: 5% der 20- bis 60-jährigen (1,1 Mio.) und 14,7% der über
60-jährigen (1,5 Mio.) Frauen wurden 1990 in Deutschland als inkontinent
registriert (Abb. 5); dagegen nur 0,2 Mio. (1%) 20- bis 60-jährige und 0,5 Mio.
(8%) über 60-jährige Männer. Insgesamt 2,8 Mio. inkontinente Frauen und 0,9
Mio. Männer über 5 Jahre. Die Ursache über diese Prädominanz liegt in der
Vulnerabilität des weiblichen Schließmuskel-Systems.


Harninkontinenz – ein medizinisches Problem


Weit verbreitet ist die Annahme, dass Inkontinenz die Folge einer gestörten
Schließmuskelfunktion sei; dies gilt aber nur in einem gewissen Prozentsatz. Wir
wissen heute, dass gerade die Harninkontinenz durch zahlreiche Störungen im
Bereich des unteren Harntraktes, einschließlich der nervösen
Steuerungsmechanismen, verursacht werden kann.


Belastungs-(Stress-)Inkontinenz
 

Von der Schließmuskelschwäche werden vor allem Frauen befallen, deren
Schließmuskelsystem primär leichter verletzlich ist. Beim Mann dagegen
bildet die Prostata einen sicheren Schutz. Eine Schwächung des
Schließmuskelsystems am Blasenauslass ist häufig traumatisch, vor
allem durch Geburten – oder aber degenerativ – durch zunehmende
Gewebsschwäche im Alter bedingt. Bei Männern ist fast immer –
glücklicherweise selten – eine Verletzung im Rahmen einer Prostataoperation die
Ursache einer Schließmuskelschwäche. Eine solche Schwäche des
Schließmuskelsystems führt zu einer „passiven Harninkontinenz",
(„Belastungsinkontinenz", „Stressinkontinenz"), bei der durch Husten, Lachen,
Niesen, Pressen passiv der Druck in der Blase den Schließmuskeldruck
übersteigt, so dass es zum unwillkürlichen Urinabgang kommt.
Die Therapie der Belastungsinkontinenz ist eine Domäne operativer
Behandlungsmethoden. Durch gezieltes Beckenbodentraining kann in leichteren
Fällen eine Besserung erzielt werden, in jedem Falle aber eine progrediente
Verschlechterung der Schließmuskelfunktion vermieden werden.


Dranginkontinenz


Von der passiven Harninkontinenz (Schließmuskelschwäche) müssen die
verschiedenen Formen der aktiven Harninkontinenz abgegrenzt werden, deren
Ursache eine Überaktivität des eigentlichen Blasenmuskels ist. Normalerweise ist
der Blasenmuskel während der Ruhe- oder Speicherphase völlig inaktiv, so dass
der Urin von den Nieren über die Ureteren in die Blase gepumpt werden kann,
ohne dass es zu messbaren Drucksteigerungen in der Blase kommt. Bei einer
Überaktivität des Blasenmuskels werden während der allmählichen Blasenfüllung
durch den Füllungsreiz, aber auch durch äußere psychische, motorische oder
Berührungsreize, Blasenkontraktionen ausgelöst, die dazu führen, dass der
Druck in der Blase ansteigt, was der Patient als Harndrang empfindet. Zunächst
wird der Patient versuchen, durch aktive Kontraktion des Schließmuskels den
unwillkürlichen Urinabgang zu verhindern; dies gelingt ihm jedoch nur begrenzt.
Ist die Blasenkontraktion zu kräftig oder zu andauernd, wird sie den
Schließmuskeldruck überwinden, so dass es zum unwillkürlichen Urinabgang
kommt.


Motorische Dranginkontinenz


Von der motorischen Dranginkontinenz muss man die „sensorische
Dranginkontinenz" unterscheiden. Die sensorische Dranginkontinenz ist die Folge
einer reflektorischen Öffnung des Schließmuskels, bedingt durch intensiven
Harndrang, ohne dass sich primär der Blasenmuskel aktiv kontrahiert.
Motorische und sensorische Dranginkontinenz sind nicht selten die Folge
chronischer Entzündungen, lang anhaltender Obstruktionen im Bereich des
Blasenauslasses (Prostatavergrößerung, Harnröhrenstenosen), von Tumoren
oder Strahlenschäden. Oft liegen aber auch rein psychovegetative Ursachen vor.
Die Behandlung einer Dranginkontinenz ist die Domäne einer medikamentösen
Therapie. Sie hat das Ziel, den überaktiven Blasenmuskel ruhig zu stellen und
die sensible Reizschwelle für den Harndrang herabzusetzen (Flavoxat,
Oxybutynin, Propiverin, Trospiumchlorid). Voraussetzung für eine erfolgreiche
medikamentöse Therapie ist jedoch die Erkennung und Behandlung einer
eventuell vorliegenden morphologisch fassbaren Ursache (Infektbehandlung,
Prostataoperation, operative Beseitigung einer Harnröhrenstenose,
Tumorbehandlung).


Ãœberlaufinkontinenz


Bei einer Blasenauslassobstruktion (Prostatavergrößerung, Harnröhrenstenose),
welche die Blasenentleerung so stark behindert, dass trotz normaler Blasen- und
Schließmuskelfunktion der Blasenmuskel nicht in der Lage ist, den Urin gegen
das Hindernis vollständig zu entleeren, kommt es zur Ausbildung einer
„obstruktiven Überlaufinkontinenz": Die Blase füllt sich immer mehr, der
Blasenmuskel wird überdehnt, er kontrahiert sich gegen das
Entleerungshindernis und presst unkontrolliert kleine Urinportionen ab, ohne die
Blase wirklich entleeren zu können.
Eine solche Überlaufinkontinenz kann ausschließlich operativ behandelt werden:
Beseitigung des Miktionshindernisses (Prostataoperation, Operation einer
Harnröhrenstenose). Eine Überlaufinkontinenz kann aber auch durch eine
Schwäche des Blasenmuskels (Detrusor-Insuffizienz) mit Verlust seiner
Kontraktionsfähigkeit (Detrusor-Akontraktilität) verursacht werden („funktionelle
Überlaufinkontinenz"). Während bei Patienten im jüngeren und mittleren
Lebensalter eine Detrusor-Akontraktilität häufig psychogener Genese ist, ist sie
im höheren Lebensalter in erster Linie die Folge medikamentöser Therapie: ACE-
Hemmer, Calcium-Antagonisten (Niphedipin), Kaliumkanalöffner (Birakalim),
Betablocker, Antispasmodika, Antidepressiva, Sedativa (Diazepam-Derivate) o.
ä.; aber auch bei Stoffwechselerkrankungen (Diabetes mellitus), bei
Erkrankungen des zentralen Nervensystems (Parkinson-Syndrom, funikuläre
Myelose, Myelitis disseminta, Polyneuropathie u. a.) tritt nicht selten eine
Detrusor-Akontraktilität komplizierend auf. Auch Verletzungen und Erkrankungen
der Cauda equina und des Plexus pelvicus führen fast regelmäßig zur Detrusor-
Akontraktilität. Die Therapie der Detrusor-Akontraktilität richtet sich nach der
Grundkrankheit. In vielen Fällen bereitet die Behandlung einer Detrusor-
Akontraktilität große Probleme, so dass ein (Selbst-)Katheterismus zur
Blasenentleerung unumgänglich wird.
Da eine Ãœberlaufblase sowohl obstruktiver als auch funktioneller Genese sein
kann, ist es gerade bei älteren, nicht selten multimorbiden Männern unbedingt
erforderlich, eine Detrusorschwäche auszuschließen, bevor man sich zu
operativen Interventionen an der Prostata entschließt.


Reflexblase


Der zweizyklische Rhythmus der Blasenfunktion umfasst die unbewusste
Blasenfüllung in der Ruhe- und Speicherphase, in welcher der Blasenmuskel
inaktiv und der Schließmuskel kontrahiert verschlossen sind, und die willkürlich
ausgelöste Blasenentleerung, während der der Blasenmuskel bewusst aktiv zur
Kontraktion gebracht wird und der Schließmuskel erschlafft. Dieser zweizyklische
Rhythmus von Harnspeicherung und Harnentleerung wird von übergeordneten
nervösen Zentren gesteuert.
Blasen- und Schließmuskelfunktion werden gemeinsam im Miktionszentrum des
Hirnstammes koordiniert. Der Mensch hat nun die Möglichkeit, mit seinem
Großhirn das Miktionszentrum im Hirnstamm zu beeinflussen: Er kann eine
Blasenentleerung willkürlich auslösen, auch wenn noch kein Harndrang vorliegt,
und eine drohende Miktion willkürlich unterdrücken, wenn trotz Harndranges
keine Entleerungsmöglichkeit besteht. Diese Kontrollfunktion des Großhirns
muss das Kleinkind erlernen und geht im Alter bei zunehmender Atrophie des
Großhirns oder bei Substanzverlusten durch einen apoplektischen Insult sowie
bei einigen neurologischen Erkrankungen häufig verloren; das Miktionszentrum
im Hirnstamm wird unkontrolliert: „ungehemmte neuropathische Blase"
(supraspinale Reflexblase). Eine Harninkontinenz bei ungehemmter
neuropathischer Blase kann aber oft durch intensives Toilettentraining
rehabilitiert werden.
Durch Erkrankungen oder Verletzungen des Rückenmarkes, insbesondere der
höheren Segmente, werden die Nervenbahnen unterbrochen, welche das
Miktionszentrum im Hirnstamm mit Harnblase und Schließmuskel verbinden.
Dann steuern ungeordnete pathologische Reflexbahnen im tiefen Rückenmark
die Funktion des unteren Harntraktes. Die Koordination von Blasen- und
Schließmuskelfunktion geht verloren, beide arbeiten nicht mehr miteinander,
sondern gegeneinander (Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie): „Reflexinkontinenz".
Therapie: Medikamentöse oder operative Zusatzmaßnahmen.


Extraurethrale Inkontinenz


Bei all den aufgezeigten Formen der Harninkontinenz – Belastungs-, Drang-,
Überlauf-, neuropathische und Reflexinkontinenz – tritt der Urin unkontrolliert aus
der Harnröhre aus: „urethrale Harninkontinenz". Von diesen Formen der
urethralen Harninkontinenz muss man die verschiedenen Arten der
„extraurethralen Harninkontinenz" abgrenzen, bei denen durch pathologische
Fistelgänge (Blasenscheidenfistel, Harnleiterfistel) oder durch kongenitale
Fehlanlagen (ektope Uretermündung), Urin unkontrolliert abgeht. Solche Formen
der Harninkontinenz können im Allgemeinen nur operativ behandelt werden.
Allein wegen der verschiedenen Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten der
Harninkontinenz ist es Aufgabe des behandelnden Arztes, zunächst durch eine
aufwendige morphologische und funktionelle Diagnostik („Urodynamik") die
jeweilige Art der Harninkontinenz zu erkennen und zu klassifizieren, bevor er mit
irgendwelchen Behandlungen beginnt. Es wäre und ist absoluter Unsinn, bei
einer Patientin mit einer Dranginkontinenz oder einer ungehemmten
neuropathischen Blase eine Inkontinenzoperation durchzuführen; der Misserfolg
ist vorprogrammiert. Ebenso wenig sinnvoll ist eine medikamentöse Behandlung
einer Sphinkterschwäche mit Medikamenten, welche die Blase ruhig stellen
(Anticholinergika). Diagnostik, Klassifikation und dann Therapie muss die Devise
lauten, um das Problem Harninkontinenz medizinisch lösen zu können.


Harninkontinenz – ein soziales Problem


Man wirft der modernen Medizin vor, dass es ihr nicht gelungen sei, trotz eines
enormen apparativen, personellen und finanziellen Aufwandes die allgemeine
Morbidität der Bevölkerung zu verbessern; im Gegenteil: Nie war die
durchschnittliche Morbiditätsrate so hoch wie heute, nirgendwo ist der
durchschnittliche Krankenstand so hoch wie in Deutschland. Ein Armutszeugnis
für die moderne Medizin? Nein, denn durch die Leistungen der Medizin in den
vergangenen Jahren ist es gelungen, die allgemeine Mortalität zu senken,
Krankheiten zu besiegen, an deren Folgen man noch vor wenigen Jahren
gestorben wäre, und die Lebenserwartung in wenig mehr als einem halben
Jahrhundert zu verdoppeln; allerdings im den Preis, dass mit dem wesentlich
gestiegenen Durchschnittsalter die allgemeine Morbidität zunehmen musste. Die
Patienten, welche früher noch im Alter von 30 oder 40 Jahren an TBC,
Infektionskrankheiten, insbesondere durch Typhus und Cholera, gestorben
wären, erwarten nun langwierige Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems,
Krebserkrankungen oder Harninkontinenz im Alter.
Das Risiko, eine Harninkontinenz zu entwickeln, steigt mit dem Ausmaß der
Mulitmorbidität. Mit der Vielfalt der Leiden – z. B. Herz-Kreislaufinsuffizienz plus
Störungen des Bewegungsapparates plus Stoffwechselerkrankungen – werden
die Patienten zunehmend inaktiviert; in geriatrischen Kliniken und
Pflegeinstitutionen sind 80% der bettlägerigen Patienten inkontinent. Da die
Inkontinenz altersabhängig ist, wird sie bei der derzeitigen
Bevölkerungsentwicklung in Deutschland für die Zukunft immer mehr an
Bedeutung gewinnen. Im Jahre 2000 werden bereits 25% der
Gesamtbevölkerung über 60 Jahre alt sein und im Jahre 2030 35% der
Bevölkerung die 60-Jahrgrenze überschritten haben. Welche sozialpolitische
Größe die Inkontinenz tatsächlich darstellt, können wir zum gegenwärtigen
Zeitpunkt nicht sagen; es liegen keine sicheren Angaben über tägliche,
wöchentliche oder monatliche Probleme betroffener Patienten vor, auch nicht
über den Schweregrad der Harninkontinenz. Daher hat die GIH den Versuch
unternommen, eine Klassifikation der Inkontinenz zu erarbeiten:
- sporadische Harninkontinenz (weniger als 10 ml/h)
- belastende Harninkontinenz (weniger als 25 ml/h)
- schwere Harninkontinenz (weniger als 50 ml/h)
- absolute Harninkontinenz (mehr als 50 ml/h)


Darüber hinaus ist es für die Beurteilung des Schweregrades der Inkontinenz von
entscheidender Bedeutung, ob die Harninkontinenz kombiniert ist mit einer
Stuhlinkontinenz oder nicht. Für die Versorgung Inkontinenter mit
Einmalinkontinenzmitteln müssen in Deutschland jährlich fast 1 Milliarde DM
aufgewendet werden. Bedenkt man darüber hinaus, wie viele alte oder
behinderte Menschen allein wegen der begleitenden oder konsekutiven
Inkontinenz nicht mehr in häuslicher Pflege gehalten, sondern in Pflegeheime
gebracht werden – „inkontinent und ab ins Heim" –, kann man die sozialpolitische
Dimension der Inkontinenz abschätzen.
Das generelle Ziel ärztlichen und pflegerischen Handelns war, ist und sollte
bleiben, alten, kranken und behinderten Menschen ihre Lebensqualität wieder zu
geben, sie möglichst unabhängig von fremder Hilfe und Versorgung zu machen,
ihnen die Möglichkeit zu geben, wieder ein eigenes sinnerfülltes Leben führen zu
können. Nicht ökonomische Kosten-Nutzenberechnungen, sondern die
humanitäre Verantwortung gegenüber den Alten und Kranken müssen unser
Handeln bestimmen; denn diese haben das gleiche Recht auf Leben wie Jüngere
und Gesunde. Die Rehabilitation Inkontinenter ist eine sozialpolitische Aufgabe,
ebenso wie deren Versorgung.


Inkontinenz – ein hygienisches Problem


Mit zunehmendem Alter erfährt die Haut des Menschen Veränderungen in der
chemischen Zusammensetzung der Bindegewebssubstanz mit Abnahme des
Wassergehaltes und dadurch bedingtem Spannungsverlust. Die Haut wird
trocken, verliert ihre Elastizität und wird zunehmend intolerant gegenüber
Wärme, Druck und Feuchtigkeit. Längeres Liegen und Sitzen in feuchter Wärme
bei Inkontinenz sowie die ätzenden Eigenschaften des meist konzentrierten Urins
alter Menschen führen über kurz oder lang zu Hautschäden, Ulzerationen und
letztlich Dekubitusbildung. Erschwerend kommt hinzu, dass bei vielen Alten,
Behinderten und Patienten mit peripheren oder zentralen Innervationsstörungen
die Durchblutungs-Regulation der Haut und des Unterhautgewebes gestört ist,
woraus ein zusätzliches Risiko der Dekubitusbildung entsteht.
Neben den lokalen medizinischen Risiken müssen aber auch allgemein
hygienische Gesichtspunkte berücksichtigt werden: Harn- und Stuhlinkontinenz
führen zwangsläufig zu Geruchsbelästigungen und zur ästhetischen Isolation des
Patienten. Nur durch passend ausgewählte Inkontinenzhilfsmittel und sorgfältige
Haut- und Kleidungspflege ist es möglich, die hygienischen Probleme und die
Geruchsentwicklung zu verhindern. Regelmäßige Reinigung der Haut von
Schweiß, Harn und Stuhl mit milden Seifen (keine Waschlotionen, parfümierte
Seifen oder Deodorants!) und gewissenhafte Abtrocknung sind ebenso wichtig
wie die individuelle Auswahl und Anpassung eines geeigneten
Inkontinenzhilfsmittels. Man unterscheidet absorbierende Hilfsmittel, die den Urin
oder Stuhl aufsaugen (Binden, Vorlagen, Windelhosen), von Hilfsmitteln zum
Auffangen des Urins (Katheterurinal, Kondomurinal, Incogyn).
Werden aufsaugende Hilfsmittel benutzt, müssen sie den Harn schnell
aufnehmen und ihn so bald wie möglich von der Haut fern halten. Dicke und
Saugfähigkeit des Materials sind die entscheidenden Faktoren. Aber: zu wenig
wirkt wie eine feuchte Kammer, zu viel ist wenig komfortabel und begünstigt die
Dekubitusbildung! Das absorbierende Versorgungssystem muss dem jeweiligen
Inkontinenzgrad und der Beweglichkeit des Patienten angepasst werden.
Gleiches gilt für Harnableitungssysteme. Noch so gute Inkontinenzhilfsmittel
dürfen aber nicht dazu verleiten, sich auf die Versorgung zu beschränken und
nicht sämtliche Möglichkeiten der Blasenrehabilitation auszuschöpfen: Toiletten-
oder Beckenbodentraining, medikamentöse Unterstützung oder Operation! Die
beste Lösung der hygienischen Probleme der Harn- und Stuhlinkontinenz stellt
eben nicht die optimale Versorgung, sondern die Rehabilitation mit dem Ziel der
Wiedererlangung der willkürlichen Kontrolle über Blasen- und Darmfunktion dar.


Inkontinenz – ein psychologisches Problem


Inkontinenz im Alter wird häufig als „natürlich" und „altersbedingt" angesehen: die
Rückentwicklung des Menschen auf die Stufe des hilflosen Kleinkindes.
Schamgefühl und Angst vor Entdeckung lassen diese Menschen lange Zeit ihre
Probleme verschweigen, auch wenn Flecken an Kleidung und Bettwäsche sowie
der charakteristische Geruch längst führende Symptome geworden sind. Dann
werden sie eine Belastung für die Umgebung; Bekannte und Verwandte wenden
sich ab, gehen auf Distanz, sobald sie die Symptome der Inkontinenz
wahrgenommen haben. Vereinsamung, Isolation und Hoffnungslosigkeit sind die
Folge. Der Inkontinente oder seine Angehörigen gehen verstohlen ins Geschäft,
Apotheke, Drogerie, Sanitätshaus oder Selbstbedienungsladen, um sich
Hilfsmittel zu besorgen, anstatt einen Arzt um Rat zu fragen, um die Ursache
klären und eine gezielte Therapie einleiten zu lassen. Inkontinenz – eine
„peinliche" Krankheit. Aber auch die meisten Ärzte sind derzeit nur wenig am
Problem der Harn- und Stuhlinkontinenz interessiert; sie wissen zu wenig über
Ursachen, Klassifikation, Diagnostik und Therapie der Inkontinenz im Alter.
Allgemeines Interesse findet nur die Belastungsinkontinenz von Frauen im
mittleren Alter, die man operieren kann, und – bedingt – Dranginkontinenz, für die
man heute Medikamente hat. Inkontinenz ist keine attraktive Erkrankung, über
die man spricht wie über einen Nieren- oder Gallenstein, einen Herzinfarkt, einen
Unfall oder eine Krebsoperation. Inkontinenz ist ein Tabu, Inkontinente akzeptiert
man nicht als Kranke, die geheilt werden müssen und können, sondern als
unsauber, vernachlässigt, heruntergekommen; mit solchen Menschen will man
lieber nicht zu tun haben, daher „ab ins Heim". Harn- und Stuhlinkontinenz, ein
psychologisches Problem, welches nur gelöst werden kann, wenn es gelingt,
diese Erkrankung aus der Tabuzone herauszuholen, das Interesse der Ärzte und
Forscher zu wecken, Patienten zu motivieren, sich den Ärzten anzuvertrauen,
und erfahrene Therapeuten zu gewinnen, ihre Kenntnisse der Öffentlichkeit
weiterzugeben. Das sind die Ziele der Gesellschaft für Inkontinenzhilfe (GIH).

Quelle: www.gih.de

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