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Stuhlinkontinenz – Ursachen, Diagnostik und Therapie
PD Dr. Michael Probst Chirurgische Klinik, Klinikum Lippe-Lemgo gGmbH, Lemgo
Die Körperfunktion der anorektalen Kontinenz beschreibt ein automatisch gesteuertes, willkürlich zu beeinflussendes Verschlusssystem des Enddarmes, das die ort- und
zeitgerechte Absetzung des Darminhaltes ermöglicht. Mit einbezogen im weiteren Sinne ist dabei auch die Fähigkeit, Stuhl und Gase voneinander zu unterscheiden.
Inkontinenz bedeutet dementsprechend das krankhafte Versagen dieser Körperfunktion. Die Stuhlinkontinenz ist eine häufige Erkrankung, nach Untersuchungen
von Enck (1994) ist mit einem Auftreten bei 1,5 bis 5,3% der deutschen Bevölkerung zu rechnen. Der Wert von 5% der deutschen Bevölkerung entspricht dabei einer Zahl von ca. 4 Mio. Betroffenen, die an einer
unterschiedlichen Ausprägung der Stuhlinkontinenz leiden. Die Häufigkeitsangaben decken sich vollständig mit denen, die bei Untersuchungen in England und den USA gefunden wurden. Die
Häufigkeit der Stuhlinkontinenz nimmt mit dem Alter zu, bei geriatrischen und psychiatrischen Patienten ist mit bis zu 30% Stuhlinkontinenz zu rechnen.
KONTINENZORGAN UND KONTINENZLEISTUNG
Das Kontinenzorgan besteht aus mehreren anatomischen Strukturen, deren intaktes
Zusammenspiel die komplexe Kontinenzleistung ermöglicht. ?Innerer Schließmuskel (Sphincter ani internus): ein glatt-muskulärer Ringmuskel, der bei unwillkürlicher Steuerung etwa 70% der
Kontinenzleistung erbringt. ?Äußerer Schließmuskel (Sphincter ani externus): dieser ist willkürlich anzuspannen und kann kurzzeitig die Verschlusskraft deutlich erhöhen (Kneifdruck).
?Sensible Schleimhaut des Analkanals: Über diese Auskleidung des Analkanals können die unterschiedlichen Qualitäten von Luft, flüssigem und festem Stuhl wahrgenommen werden.
?Reservoirfunktion des Enddarmes: Im letzten Teil des Enddarmes kann der Stuhl gesammelt werden, bis eine Wahrnehmung über Dehnungsrezeptoren in
der Wand Stuhldrang signalisiert und dann der Defäkationsvorgang eingeleitet wird. ?Corpus cavernosum recti: Dieses am inneren Rand des Schließmuskels
gelegene Gefäßpolster bewirkt den luft- und feuchtigkeitsdichten Verschluss. Eine Ausweitung dieser Gefäße bis zum Heraustreten aus dem Anus bezeichnet man als Hämorrhoidalleiden.
?Beckenboden: In diese aus Muskeln und Faszienzügen bestehende Abschlussplatte, die beim aufrechten Gang des Menschen die Last des Bauchinhaltes zu tragen hat, ist der Verschlussapparat eingebettet.
Jede dieser Organstrukturen kann in ihrer Form oder Funktion gestört sein und damit zur Stuhlinkontinenz führen.
URSACHEN DER STUHLINKONTINENZ
Stuhlinkontinenz ist primär eine klinische Diagnose. Eine Einteilung in Schweregrade wird nach den anamnestischen Angaben und den Untersuchungsbefunden definiert.
Man unterscheidet dabei den unwillkürlichen Abgang von Luft (Flatus) und/oder dünnflüssigem Stuhl bis hin zum vollständigen Funktionsverlust des Schließmuskels. In
die Beurteilung der Schweregrade geht auch die Häufigkeit solcher Episoden ein. Die möglichen Ursachen, die über eine Schädigung des Kontinenzorgans
Stuhlinkontinenz zur Folge haben, sind in der nebenstehenden Tabelle dargestellt. Nach den Ursachen wiederum lässt sich Stuhlinkontinenz in verschiedene Gruppen bzw. Formen zusammenfassen:
1.Sensorische Stuhlinkontinenz bei intaktem Schließmuskel 2.Muskuläre Stuhlinkontinenz bei erhaltener Sensibilität 3.Die Kombination von 1. und 2. 4.Störungen der Reservoirfunktion der Rektumampulle
Eine sensorische Stuhlinkontinenz liegt vor, wenn die sensible Wahrnehmung der Schleimhaut des Analkanals gestört ist. Dies kann beispielsweise der Fall sein bei
neurologischen Erkrankungen wie Bewusstlosigkeit oder Schlaganfall, aber auch, wenn die Schleimhaut des Analkanals z. B. bei einem Anal- oder Rektumprolaps nach außen
gestülpt ist und damit an Wahrnehmungssensibilität einbüßt. Ist bei einer Analatresie (angeborenes Fehlen der Afteröffnung) der Analkanal nicht angelegt oder kam es durch
Korrekturoperationen im Durchzugsverfahren zum partiellen oder vollständigen Verlust der Analschleimhaut, fehlt hier ebenfalls die sensible Wahrnehmung, so dass sich
wiederum das klinische Bild einer sensorischen Stuhlinkontinenz ergibt. Bei der muskulären Stuhlinkontinenz ist der Schließmuskelapparat geschädigt, die sensible Wahrnehmung durch die Analkanal-Schleimhaut
ist dabei intakt. Häufigste Ursache für eine Schädigung des Schließmuskelapparates ist die vaginale Geburt mit Dammriss. Insbesondere bei Kindern sind auch Pfählungsverletzungen (Übersteigen
von spitzen Zäunen) häufig. Des Weiteren können sich komplexe Schädigungen durch eine unzureichende Funktionsfähigkeit der Beckenbodenmuskulatur bei der
sog. Beckenbodeninsuffizienz ergeben. Häufig ist hier die Kombination mit einem Rektumprolaps, vor allem bei älteren Frauen. Aber auch Fisteln und Fisteloperationen, speziell bei den hochreichenden ischio-
rectalen Fisteln, können eine teilweise oder vollständige Zerstörung des Ringmuskels zur Folge haben. Eine narbige Ausheilung des Defektes
führt zwar nicht zum vollständigen Verlust der Sphinkterkraft, jedoch ist durch die Erweiterung des Ringmuskels die Kraft herabgesetzt. Im höheren Lebensalter kann dann bei Nachlassen der Gewebeelastizität
eine Stuhlinkontinenz evident werden. Die Kombination von sensorischer und muskulärer Stuhlinkontinenz lässt sich am besten am Beispiel des Rektumprolaps erläutern. Ein
Hindurchgleiten der Rektumwand durch den muskulären Sphinkter bedingt zum einen den Verlust der Wahrnehmungssensibilität, zum anderen dehnt der hindurchtretende Darmanteil den Schließmuskel
dauerhaft auf, so dass seine Kraft geschwächt wird. Die Störung der Reservoirfunktion der Rektumampulle tritt nach Operationen auf. Zwar wurden in der Rektum-Carcinom-Chirurgie mehr
und mehr schließmuskelerhaltende Operationen eingeführt, die nach der Entfernung des Tumors einen Wiederanschluss des Darmes bis zur inneren Schließmuskelöffnung ermöglichen, eine Vernarbung in der
Umgebung sowie das Fehlen der speziellen ampullären Erweiterung des Rektums führen dann aber zum häufigen Stuhlgang und zur Inkontinenz. Auch chronisch entzündliche Darmerkrankungen (M. Crohn,
Colitisklerose), die über Jahre zu einer Veränderung der Rektumwand führen, können Ursache für einen Verlust der Reservoirfunktion sein.
DIAGNOSTIK DER STUHLINKONTINENZ
Führend in der Diagnostik der Stuhlinkontinenz ist die ausführliche Anamnese, mit der
Beschwerdebeginn, Stuhlfrequenz, Stuhlbeschaffenheit, Umstände des unfreiwilligen Stuhlabgangs, aber auch vorhandene Systemerkrankungen, frühere Therapien,
Operationen usw. erfasst werden. Bei Frauen ist speziell eine Geburtenanamnese erforderlich. Es folgt die Inspektion der Analregion, bei der z. B. Irritationen,
entzündliche oder ulceröse Veränderungen der Perianalhaut, Fissuren, Narben, Hämorrhoiden oder Fisteln festgestellt werden können sowie die rektaldigitale
Untersuchung. Diese ermöglicht u. a. eine sichere Beurteilung der Sphinkteranatomie und beim Auslösen des Kneifdrucks eine Beurteilung der Verschlusskraft des Sphinkters.
Ergänzt werden diese Untersuchungen durch manometrische Untersuchungen wie Durchzugsmanometrie oder Messung der Füllungsdrucke. Zusätzlich können radiologische Methoden wie das
Defäkogramm eine bildliche Darstellung des Entleerungsvorganges liefern. Die eingehende neurologische Untersuchung, die mit Ableitung eines
Nadel-EMG sehr belastend für den Patienten ist, wird nicht so häufig angewendet. Bei speziellen Fragestellungen können auch Nervenleitungszeiten gemessen werden. In jüngster Zeit wird die
Untersuchung der anatomischen Strukturen mit einem Kernspintomogramm favorisiert.
DIE THERAPIE DER STUHLINKONTINENZ Ursachen der Stuhlinkontinenz finden Sie hier.
Die Therapie der Stuhlinkontinenz richtet sich nach den auslösenden Ursachen bzw. Grunderkrankungen und umfasst sowohl konservative als auch chirurgische Verfahren.
Vorhandene, die Stuhlinkontinenz ebenfalls beeinflussende Systemerkrankungen, z. B. Diabetes mellitus, müssen natürlich mittherapiert werden.
Die konservative Therapie ist häufig unverzichtbarer Ausgangspunkt jeder Behandlung. So kann z. B. eine geeignete Stuhlgangregulierung mit Anleitung des Patienten zu einem besseren Stuhlgangverhalten nicht
selten zu einer deutlichen Besserung der Inkontinenz beitragen. Medikamente beseitigen keine Inkontinenz, können aber gerade im Rahmen dieser Bemühungen sehr hilfreich sein. Im Vordergrund stehen
hier Quellstoffe für einen konsistenteren Stuhlgang, wodurch sich leichtere Formen der Stuhlinkontinenz positiv beeinflussen lassen. Falls eine Übererregbarkeit des vegetativen Nervensystems zu ständigem
Stuhldrang, besonders nach der Nahrungsaufnahme (gastrocolischer Reflex) führt, ist eine milde Sedierung (Sedovegan) unterstützend wirksam. Manche Patienten versuchen, ihren Bewegungsradius durch die
Einnahme von darmmotilitätshemmenden Medikamenten (Lopedium) zu vergrößern. Dies ist ein durchaus probates Mittel, allerdings führt eine ständige Einnahme zum Verlust an Wirksamkeit. Auch Spasmolytika
(Buscopan) werden eingenommen, um die Darmpassage zu verlangsamen. Eine weitere konservative Behandlungsoption ist das gezielte muskuläre
Aufbautraining der Beckenbodenmuskulatur und der darin eingebetteten externen Schließmuskeln. Dabei hat sich die Kombination der Beckenbodengymnastik mit Elektrostimulation gut bewährt. Über eine in
den Analkanal eingeführte Rektalsonde wird der Schließmuskel durch elektrische Impulse zur Kontraktion angeregt und dadurch gekräftigt. Gleichzeitig werden dem Patienten diese Muskelkontraktionen bewusst
gemacht, so dass er im Sinne eines Biofeedback-Trainings dauerhaft von dieser Maßnahme profitiert. Wird regelmäßig trainiert, liegt die Erfolgsrate bei etwa 70%. Voraussetzung für den Erfolg ist allerdings,
dass ein Rest intakter Sphinktermuskulatur vorhanden sein muss. Eine exakte Diagnose und Indikationsstellung sind somit unerlässlich. Operative Therapien beinhalten die Sanierung proktologischer Leiden
wie Hämorrhoiden, Fisteln, Fissuren und Tumoren, und seit man gelernt hat, den Schließmuskel auch chirurgisch zu versorgen, sind Rekonstruktionen des Ringmuskels möglich. Komplexere Zerstörungen
auch des Beckenbodens sind, chirurgisch gesehen, sehr aufwendig und erfordern die Mitarbeit der Patienten (Compliance). Bei vollständiger Zerstörung des analen Schließmuskelapparates kann
dieser durch eine Musculus gracilis-Plastik ersetzt werden. Dabei wird der Musculus gracilis vom Oberschenkel mobilisiert und um den Analkanal herumgeschlungen und fixiert. Eine Dauerstimulation des
Muskels wird durch einen unter die Bauchhaut implantierten Impulsgeber gewährleistet. Mit einem Magneten kann dieser Impulsgeber ausgeschaltet werden, damit ist eine Entleerung möglich.
Der voll implantierbare künstliche Schließmuskel, der sich bei der Harninkontinenz bereits bewährt hat, steht noch am Anfang seiner Entwicklung, stellt aber nach den bisherigen Erfahrungen bei
ausgewählten Patienten eine sehr gute Therapiealternative dar. Aufgrund der heute vorhandenen Therapiemöglichkeiten sollte eine Stuhlinkontinenz nicht als schicksalhaft akzeptiert werden, vielmehr
sollten die Betroffenen die verständlichen Hemmschwellen überwinden und immer kompetenten Rat und Hilfe suchen. Dabei ist es wichtig zu wissen, dass die Medizin heute in der Lage ist, auch hochbetagte
Patienten aktiv zu behandeln, da viele diagnostisch-therapeutische Maßnahmen weniger invasiv geworden sind und operative Eingriffe am Kontinenzorgan oft auch mit einer schonenden Regionalanästhesie
durchgeführt werden können.
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